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13NovZwei deutsche Familiengeschichten
Was hast du eigentlich damals gemacht? – Zwei deutsche Familiengeschichten
Irgendwann wird man uns fragen, was wir eigentlich damals gemacht haben – damals, als Rechtspopulisten in Deutschland und Europa immer stärker wurden, als Menschen Zuflucht vor Krieg, politischer Verfolgung, Hunger oder Terror in unserem Land suchten, als der Antisemitismus wie ein sehr lebendiger Untoter in unserer Gesellschaft herumgeisterte. Was hast du eigentlich damals gemacht?
Mit dieser Frage machten sich auch Judy Rosenthal und Frank Paulun auf den Weg, um mehr über die eigene Familiengeschichte während der NS-Zeit herauszufinden. Und sie bekamen Antworten, mit denen sie nicht gerechnet hatten: Frank Paulun musste erfahren, dass sein Großvater als regimetreuer Polizist Teil der NS-Vernichtungsmaschinerie gewesen und sogar im Einsatz hinter der Frontlinie im Osten war.
Paulun zitierte seine Tochter, die meinte, es wäre ihr lieber gewesen, der Vater hätte herausgefunden, dass sie mit Hans und Sophie Scholl verwandt sind, aber Familie könne man sich eben nicht aussuchen und auch wenn es weh tue, sei es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Denn Erlebnisse und Erfahrungen prägen, werden weitergegeben und schreiben sich damit in die DNA von Menschen und Familien.
Rosenthal hingegen erfuhr, dass insgesamt 13 Familienangehörige als Juden Opfer der Nationalsozialisten wurden. Es waren Verwandte, von deren Existenz sie bis zu ihrer Recherche oftmals gar nichts wusste, weil Verschollene in dem Ringen der Überlebenden, sich in ihrer neuen Heimat USA zurechtzufinden, teils in Vergessenheit geraten waren. Auch die Angehörigen von Judy Rosenthal haben deren Bemühungen, Vergessenes ans Licht zu holen, sehr begrüßt.
Der offensive Umgang mit ihrer Familiengeschichte führte Paulun und Rosenthal in Begleitung von Gottfried Kößler, Gedenkstättenpädagoge und ehemaliger stellvertretender Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, am 7.11.2024 in die St. Angela-Schule, wo die beiden Nachkommen von Opfern und Tätern gemeinsam über die Ergebnisse ihrer jeweiligen Recherche berichteten und damit einen bleibenden Eindruck bei den Anwesenden hinterließen. Gräben zwischen den Gruppen der Opfer und Täter könne und solle man nicht zuschütten, aber man könne versuchen, Brücken für die späteren Generationen zu bauen. Dies betonten auch Dr. Marc Fachinger als Verantwortlicher des Zeitzeugenprojekts des Bistums Limburg und Birgit Wehner von der Katholischen Erwachsenenbildung Hochtaunus, auf deren Initiative die öffentliche Begegnung stattfand.
Durch die sehr zugewandte Moderation von Herrn Kößler wurde deutlich, wie notwendig die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit ist, die einem helfe, Zusammenhänge zu verstehen und sich selbst zu verorten. Paulun ergänzte, dass manche eigenen Verhaltensweisen erst dadurch erklärbar würden.
Und Judy Rosenthal betonte, dass Schweigen Familien belaste, während Reden und Nachfragen häufig die einzelnen Zweige einer Familie zusammenführe. Sie habe dies selbst erlebt, als sie für ihre Verwandten Stelen der Erinnerung in München zu planen begann, an deren Einweihung viele Familienangehörige teilnahmen.
Marcel Neeb, der kommissarische Schulleiter der St. Angela-Schule, dankte zum Abschluss allen Teilnehmenden und Interessierten. Bereits eingangs hatte er auf die grundsätzliche, aber auch aktuelle Notwendigkeit solcher Veranstaltungen verwiesen, denen gerade auch die SAS gern die Türen öffne. Denn auch diese katholische Schule habe während der NS-Zeit traurige Erfahrungen machen müssen: Sie sei 1940 als Schule geschlossen und zunächst in eine NS-Lehrerinnenbildungsanstalt sowie danach in ein Lazarett umgewandelt worden. Er zitierte aus einem Brief der damaligen Ursulinen an ihre Schülerinnen: „Liebe Kinder …“ – so beginnt der Brief, der die Mädchen auffordert, trotz der Situation tapfer zu sein und weiterhin die Wahrheit zu suchen, da dies an jedem Ort möglich sei.
Damit formulierten die Schwestern eine Mahnung, die damals so richtig war wie sie es heute ist. Beherzigen wir dies, dann werden wir eine gute Antwort auf Frage „Was hast du eigentlich damals gemacht?“ haben.
Heike Röhl
Weitere Informationen finden Interessierte auf der Website von Frau Rosenthal:
Copyright des Filmplakats: Judy Rosenthal